Montag, 12. Juni 2017

Die irre Heldentour des Billy Lynn

Regie: Ang Lee

Ein amerikanischer Simplicissimus....

"Die irre Heldentour des Billy Lynn" ist wahrscheinlich einer der wenigen Filme von Ang Lee, die an der kinokasse eine regelrechte Bauchlandung hinlegten. Bei einem Budget von 48 Millionen Dollar spielte der Filme bisher nur 30 Millionen Dollar wieder ein. Ein finanzielles Desaster und auch die Lee ansonsten wohlgesonnen Kritiker waren sich nicht schlüssig. Man bemängelte wenig Inhalte, wenig Höhepunkte und auch einen etwas altmodischen Inszenierungsstil. Der Film des Regisseurs solcher Welterfolge wie "Tiger and Dragon", "Brokeback Mountain" oder "Life of Pi" wird aber m.E. total zu Unrecht kritisiert, für mich hat er mit der Verfilmung des gleichnamigen Romans von Ben Fountain sein bisher vielleichtt bestes Meisterwerk geschaffen.
Vom satirisch-galligen Gehalt erinnert die Geschichte vom kurzen Heimaturlaub einer Elite-Einheit der US-Army an den Klassiker "Catch 22", die Geschichte selbst weist Ähnlichkeiten mit Clint Eastwood viel ernsterem "Flags of our Fathers" auf.
Ein Film, der ganz nahe am Protagonisten Billy Lynn (Joe Alwynn) ist für mich sogar wie ein moderner naher Verwandter von des abenteuerlichen Simplicissimus, dem Held aus dem Schelmenroman von Hans Jakob Christoffel von Grimmelshausen (geschrieben 1668 und beschreibt Initiationserlebnis, die episodische Reise durch die Gesellschaft der Gegenwart und die Selbstreflektion des Helden).
Der britische Youngster Joe Alwyn ist dieser hin- und hergerissene Billy und er verkörpert ihn total perfekt, er trägt den Film mühelos im Alleingang. Erwähnenswert aber auch die oscarreife Performance von Garrett Hedlund als sarkastischer und dynamischer Staff Sergeant David Dime.
Die Geschichte folgt den acht Soldaten der Bravo Squad Einheit (neben Alwynn und Hedlund spielen Beau Krapp, Mason Lee, Barney Harris, Arturo Castro, Ismael Cruz Cordova, Stro), die von den Medien aufgrund zufällig gefilmter Aufnahmen während eines Gefechts im Irak plötzlich zu den Helden der Stunde erklärt werden. Dabei steht der junge Texaner Billy als die Hauptfigur im Rampenlicht, denn der hatte versucht bei einem Kampf seinem Vorgesetzten Shroon (Vin Diesel) das Leben zu retten. Leider kam er zu spät, doch die Bilder gingen um die Welt und nun findet er sich neben seinen Kameraden auf einer 1wöchigen Propagandatour in der Heimat. Letzte Station nach diversen Einkaufszentren und Fernehauftritten ist ein gemeinsamer Auftritt mit den Girls von Destiny´s Child während der Halbzeitpause des Footballspiels der Dallas Cowboys. Danach müssen die Jungs zurück ins Kriegsgebiet. Während dieser Tour schießen dem jungen Billy immer wieder Bilder der Vergangenheit in den Kopf. Eindrücke von den Kampfhandlungen und von der starken Kameradschaft unter den Soldaten. Er besucht seine Familie und wie immer wird am Tisch gestritten, denn seine Schwester (Kristen Stewart) ist eine Kriegsgegnerin, die nicht will, dass ihr geliebter Bruder bei der "Befreiung" des Irak sein Leben lässt.
Überhaupt holt Ang Lee die Geschichte ganz nah an den Zuschauer heran: Die Schauspieler blicken bei ihm, während sie reden, direkt in die Kamera und nicht, wie im konventionellen Kino üblich, knapp daran vorbei. Aber das war Ang Lee nicht nah dran genug. Er wollte noch mehr und durch seine Genialität ist "Die irre Heldentour des Billy Lynn" mittendrin im Geschehen und gibt den Bildern eine extreme Dichte, ähnlich stark gemacht wie in seinem ebenfalls unterschätzten "Woodstock" Movie. Man kann beinahe jede einzelne Pore im Gesicht der Darsteller sehen.
Dabei entsteht auch automatisch ein Spiegelbild von einem damals (die Geschichte spielt 2004) schon sehr gespaltenen Land, es macht sich nicht nur beim gemeinsamen Mittagsessen in der Familie bemerkbar - auch bei der Bevölkerung stoßen Billy und seine Kameraden nicht nur auf die naive Heldenverehrung ihrer Landsleute, sie werden bei dieser irrwitzigen PR-Maschinerie auch mit kaum verholener Abneigung von einigen empfangen. Der Film gibt viele Eindrücke wieder und ebenso viele Subtexte, die nachdenklich machen. Für wenig Lohn führen diese Männer im Namen der USA Kriege. Vieleicht ist ja das einer der Kritikpunkte - Ang Lee hält die Kamera auf das Geschehen und erlaubt dem Zuschauer sich selbst Gedanken zu machen. Dabei gibt er auch keine Ziele vor und keine Intention zu erkennen. Wer einen Antikriegsfilm erwartet, der liegt falsch. Die Kameradschaft unter den Männern wird sehr groß geschrieben und erfährt eine Art Poesie in den Ritualen der Männer "Ich liebe dich" dies sagt Sergeant Shroom jedem seiner Soldaten vor einem lebensgefährlichen Einsatz und er schaut den Jungs dabei ins Gesicht. Er glaubt auch an die fernöstlichen Glaubenslehren und meint zu Billy "die Kugel, wenn sie dich wirklich treffen soll, ist schon längst abgefeuert". Eine Art Hoffnung inmitten dieser PR-Kampagne mit vielen Geschäftemachern, die nur darauf lauern Money zu machen - Ang Lees Film handelt von Krieg und von Religion, von Football und von der Glotze. Aber auch von Heimat, von Familie, Freundschaft und Liebe. Während des ereignisreichen Tages lernt er die engelsgleiche Cheerleaderin Faison (Makenzie Leigh) kennen. Sehr viel Augenkontakt führt zu Küssen hinter den Kulissen und Billy würde gerne mit diesem Mädchen fliehen und glücklich alt werden. Doch er erkennt, dass das Mädchen vor allem den Helden in ihm liebt und nicht den Mensch mit Schwächen, der dahintersteckt. Zum Abschied gibts ein Kuss, die Telefon-Nummern werden ausgetauscht und sie verspricht ihm treuherzig für ihn zu beten und ihn wieder zu treffen. Auch die Schwester hat kein Glück den Bruder aus dem Militär zu holen. Am Ende entscheidet er sich für seine Kameraden. Wohl deshalb, weil er sonst keine Heimat mehr findet. Diese ist ihm fremd geworden und ähnlich künstlich aufgebauscht wie dieser Thanksgiving Day mit Fernehübertragung ist es nicht mehr - ein Land zwischen Frivolität und Bigotterie. 




Immer wieder fällt ein einfallsreicher Schnitt auf - die Bravo Einheit läfut im Stadion durch eine wachsende Menschenmenge und dann wird übergangslos auf einen überfüllten Basar im Irak geschnitten. Jeder Passant könnte ein potentieller Angreifer sein und ein entlarvender Bezug zwischen beiden Szenarien ist hergestellt. Mit John Toll als Kameramann (Legenden der Leidenschaft, Braveheart, Der schmale Grat)  wurde einer der besten seiner Zunft verpflichtet. Interessanterweise kann man "Die irre Heldentour des Billy Lynn" auch mit einigen Robert Altman Klassikern wie "Nashville" oder "Eine Hochzeit" in Verbindung bringen. Dessen Stärke war die Inszenierung eines Events mit vielen kleinen Episoden, die Rückschlüsse auf das Große Ganze geben. Hier in dieser gezeigten Entertainment-Maschine mit Pyrotechnik und Marschmusik ist es ebenso, der entfernte Krieg wird zu einem Stück Popkultur, der Soldat zu einem begehrten Popstar für einen Tag. Für mich hat "Die irre Heldentour des Billy Lynn" Potential zum Film des Jahres.
  




Bewertung: 9,5 von 10 Punkten.

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