Regie: Francois Truffaut
Die tragische Geschichte des Victor von Aveyron...
"Der Wolfsjunge" (L´enfant Sauvage) aus dem Jahr 1970 ist einer von
Francois Truffaut schönsten Filmen. Der Film schildert den historischen
Fall des Victor von Aveyron (geb. um 1788, gestorben 1828 in Paris),
der auch als "Der Wilde von Averyron" bekannt wurde. Der Junge war ein
in Frankreich entdecktes "Wolfskind". Als er in einem Wald aufgegriffen
wird, ist der wilde Junge (Jean Pierre Cargol) ungefähr 12 Jahre alt.
Das Kind hat offenbar seit vielen Jahren wie ein Tier im Wald gelebt und
benimmt sich auch wie ein Tier - nicht nur weil er unartikulierte Laute
ausstößt. Der Fund im Wald bei Saint-Sernin-sur-Rance ist nicht nur im
Department Aveyron eine Sensation. Alle wollen den Wolfsjungen sehen,
der von Jägern eingefangen wurde. Er wird nach Paris gebracht, wo in der
berühmte Psychiater Pinel (Jean Daste) untersucht und als "Idiot" in
eine Irrenanstalt einweisen lässt. Der Arzt Dr. Itard (Francois
Truffaut) ist allerdings anderer Meinung. Er glaubt felsenfest daran,
dass der Junge nur durch den mangelden sozialen Kontakt zurückgeblieben
ist. Er setzt auf Bildung, obwohl das Kind weder auf Geräusche oder
optische Reize reagiert. Er kann jedoch den Psychiater davon überzeugen
ein Experiment einzugehen. In einer harmonischen Umgebung soll der Junge
sich an sein neues Zuhause in der Zivilisation gewöhnen, es langsam zu
schätzen wissen und dabei zu lernen. Dr. Itard will ihm Begriffe von
Gegenständen des Alltags beibringen mit dem Ziel in vielleicht sogar das
Sprechen beibringen. Durch das strenge Lernpensum ist das Kind, das den
Namen "Victor" bekommt, allerdings immer mal wieder überfordert. Itards
Haushälterin Madame Guerin (Francoise Saigner), die den mütterlichen
Part in der Erziehung übernimmt, findet ihren Arbeitgeber manchmal zu
streng mit Victor. Sie kritisiert auch das rigorose Straf- und
Belohnungssystem mit dem der Mediziner arbeitet. Der erste Begriff, den
er sagen kann, ist "lait" (Milch). Durch eine ungerechtfertigte Strafe
für Victor, glaubt er auch zu wissen, dass der Junge inzwischen eine Art
Gerechtigkeitssinn entwickeln konnte...
Das Leben des Kindes in der Zivilisation hat nicht nur traurige
Aspekte. Als der Junge flieht und einige Zeit nicht mehr auftaucht, ist
die Überraschung groß, dass er doch irgendwann zurückkehrt. Hat das Kind
also seine Heimat gefunden. Truffauts Film endet irgendwie unvollendet,
weil der Regisseur es so wollte. Er hatte vor dem Zuschauer
nahezubringen, dass Erziehung nie abgeschlossen sein kann. Victors
Gefangennahme ist von äusserster Brutalitat, auch seine Sozialisierung
durch einen Bildungsbürger hat manchmal den Anschein als würde man ein
Tier dressieren. Trotz aller Bitterheit und Skepsis ist der Film dennoch
von einer wunderschönen Poesie durchzogen - eine Höchstleistung des
Regisseurs, wenn man bedenkt, dass die Machart sogar sehr dokumentarisch
ist. Schöne Bilder von Nestor Almendros machen "L´enfant sauvage" zu
einem der besten Filme des Jahres 1970.
Bewertung: 10 von 10 Punkten.
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