Regie: Lars von Trier
Joe und die Männer...
Lars von Triers neuer Skandalfilm "Nymphonaniac" ist aufgrund seiner Laufzeit von insgesamt ca. 310 Minuten ein echter Monumentalfilm. Das Werk gliedert sich in zwei Teile. Part 1 ist mit ca. 130 Minuten Laufzeit etwas kürzer als Part 2 (180 Minuten) und auch wesentlich entspannter. Worum geht es ? Die Hauptfigur Joe (Charlotte Gainsbourg) wird von dem älteren Einzelgänger Seligman (Stellan Skarsgard) übel zusammengeprügelt in einer dunklen Gasse, nahe seiner Wohnung, gefunden. Er nimmt die unbekannte Frau mit sich nach Hause und damit beginnt von Triers melodramatische Orgasmus-Odyssee, denn die Fremde erzählt ihrem Helfer ihre Lebensgeschichte. Es ist die Geschichte einer Sexsüchtigen Nymphomanin, die sich deshalb für einen schlechten Menschen hält. Ihr aufmerksamer Zuhörer ist aber empathisch genug sie zu verstehen und ihr auch in ihren Schlußfolgerungen immer wieder zu widersprechen. Es ist eine Begegnung eines asexuellen Mannes, der Angst vor Nähe und Berührung hat, mit einem krassen Gegenpol: Die hypersexualität der Erzählerin. Und sie wird auch einen großen Einfluß auf ihren Zuhörer nehmen, nachdem sie ihre Geschichte erzählt hat. Diese Lebensbeichte hat Lars von Trier in 8 Kapitel eingeteilt, die ersten 5 werden in Teil 1 behandelt, Teil 6 bis 8 in der Fortsetzung. Im Alter von 15 Jahren verliebt sich die junge Jo (Stacy Martin) in den etwas älteren Jerome (Shia LaBeouf), der sie dann auch entjungfert. Dieses erste Mal ist kurz und ist für Jo erstmal enttäuschend, weil da ganz wenig Gefühl und Liebe dabei war. Sie will nie wieder mit einem Mann schlafen, doch der Vorsatz hält nicht lange. Gemeinsam mit ihrer besten Freundin B (Sophie Kennedy Clark) geht sie eine Wette ein, wer beim Zugfahren die meisten Männer (u.a. James Northcote, Charlie Hawkins, Clayton Newrow) zum Sex entführen kann. Jo gewinnt nach anfänglichen Startschwierigkeiten und hat einen immer größeren sexuellen Appetit. Als sie als Sekretärin bei einer Firma anfängt, begegnet sie Jerome wieder. Der will auch gleich was im Fahrstuhl, aber sie lehnt ab, weil er nicht ihr Typ sei. Was sie aber nicht daran hindert, sich in ihn zu verlieben. In der Freizeit wechselt sie die Männer aber wie ihre Unterwäsche und spielt mit ihnen teilweise ein böses Spiel. Einen verheirateten Mann (Hugo Speer) bringt sie dazu, dass er sich von seiner Frau (Uma Thurman, in einer denkwürdigen Rolle - sie taucht bei Jo mit ihren drei kleinen Jungs auf) trennt.
Als ihr Vater (Christian Slater), den sie sehr liebt, an Krebs erkrankt und im Krankenhaus im Sterben liegt, versucht sie ihre Trauer damit zu besiegen, indem sie mit dem Krankenpfleger im Nebenzimmer schnellen Sex hat. Jerome, der zwischenzeitlich mit einer anderen Sekretärin durchgebrannt ist, wird ein drittes Mal in ihr Leben eintreten. Die beiden heiraten, doch aus heiterem Himmel, als sie gerade tollen Sex mit ihrem geliebten Ehemann hat, entdeckt sie zum Entsetzen, dass sie nichts mehr empfinden kann. So endet der erste unbefangene Teil und mündet in den düsteren und destruktiven 2. Teil, bei dem das Interesse an Sex nachgelassen hat. Aber die Sucht nach Männern besteht weiter, da sie irgendwie ihre alten Feelings wieder finden will. Dies - gehe wohl nur - mit drastischen Mitteln wie Ehebruch oder der Hinwendung und Suche nach gefährlichen Männern. Sie macht wilden Sex mit zwei dunkelhäutigen Männern, die sie auf der straße aufgelesen hat oder sucht einen versierten Sadisten (Jamie Bell)I auf, der sein Studio wie im Stil einer Arztpraxis betreibt. Es folgt die Phase der Peitschenhieben und dem Wunsch durch Schmerz wieder etwas zu empfinden. Es folgt der Gang zur Therapiegruppe, eine für den Zuschauer schwer verdauliche Abtreibung, die sie selbst vornimmt und der berufliche Einstieg als sadistische Geldeintreiberin für das Inkasso Unternehmen von L (Willem Dafoe). Irgendwann soll sie ein junge Frau P (Mia Goth) als Nachfolgerin rekrutieren, die beiden Frauen kommen sich auch sexuell nahe. In einem Pädophilen (Jean MarcBarr), der aber seine Neigung nie auslebte, sieht Joe einen Seelenverwandten. Am Ende trifft sie wieder auf Jerome, der sie dann gemeinsam mit ihrer jungen Freundin zusammenschlägt. Während Jo im Dreck liegt, treibt es P mit Jerome auf einem Mülleimer, der an der Ecke steht...
.mit der Schlußszene verabschiedet sich das enfant Terrible des europäischen Films recht verstörend und makaber aus seinem Film-Monstrum, der trotz der extremen Länge, nie langweilig wird. In der Rahmenhandlung kommentiert der Zuhörer Seligmans Joes Offenbarungen immer wieder auf eigenartige, sehr versöhnliche und plausible Weise. Da vergleicht er dann auch ihre Verführungstechniken mit denen des Fliegenfisches oder es kommt auf die klassische Musik, auf Bach und auf die Fibonacci-Folge zu sprechen, auf die Polyphonie des Werkes - also drei ganz unterschiedliche Elemente der Komposition, die schließlich zur größten Perfektion und somit auch zum höchsten Glück führen. Und was für die Musik gilt, dass kann man auch auf den besten Geschlechtsverkehr ever umdeuten. Der Regisseur selbst hat ja sein skandalträchtiges Epos als Geschichte von Geilheit und Glücksstreben angekündigt. Interessanterweise kam dann auch Teil 1, der spielerisch über die Möglichkeiten der sexuellen Emanzipation berichtet mit einer jungen, fast noch naiven Joe um einiges besser an als als der ernüchternde und destruktive bis depressive 2. Teil mit einer auf ganzer Linie getriebenen Antiheldin, die durch Promiskuität bis hin zum Sadomasochismus auf der Suche nach einer neuen Inspiration ihrer nicht mehr vorhandenen Lust ist. von Triers Film ist auf alle Fälle sehr vielschichtig und interessant gestaltet. Charlotte Gainsbourg war die perfekte Wahl für diese kranke Protagonistin, sie entführt den Zuschauer in eine triste Seelenwelt, aus der es wohl kein Entkommen oder eine Erlösung gibt. Dieser hat sich wohl eher auf einen überlangen Film mit viel Sex und vielen Tabubrüchen einerseits gefreut, andererseits erwartet, um sich darüber zu echauffieren. Im Grunde muss man aber in der heutigen, weitestgehend weichgespülten und durchweg poliitsch korrekten Filmwelt freuen, dass es noch so cinematografische Quertreiber wie Lars von Trier gibt. Selbst wenn seine Filme mitunter "runterziehend" sind. Die eine oder andere Provokation müsste er nicht immer noch draufsetzen (bsp. die Abtreibungsszene, die auf mich tatsächlich schockierend war) , aber insgesamt regt der Film doch zum Nachdenken an. Stellenweise - in solchen Szenen, wenn Joe ihren Schicksalsbaum auf einer Anhöhe findet - ist man gefragt sich über den Sinn zu studieren. "Nymphomaniac" hat trotz der vielen Sexszenen, der vielen agierenden Genitalien immer wieder eine intellektuelle, reflektierende Ebene. Es schwingt immer eine gewisse Unbequemlichkeit mit auf dem lebensweg dieser Joe, denn die heitere Schlüpfrigkeit wird durch diese bis zum Schluß anhaltende verzweifelte Getriebenheit ersetzt. Aus der Groteske entsteht das Drama. Man könnte sogar meinen, dass von Trier die eigentliche Struktur des Films immer wieder mit Provokationen "auflockert" - in einer längeren Sequenz, bei der es um "Ostkirche" und "Westkirche" geht, darf man schon mal mutmaßen mit welcher Freude der Däne hier eine klassisch bhlasphemische Richtung anbietet - die Kritiker werden den Stäbchen der Empörung allzu gerne wie der Pawlowsche Hund nachrennen. Von Trier selbst sieht ja den Film als Abschluß seiner Depressionstrilogie (Name passt perfekt), daher komplettiert dieser Monumentalfilm der besonderen Art das Trio, zu dem auch "Antichrist" und "Melancholia" gehören. In Joe spiegelt sich jedenfalls auch eindrücklich das Leid einer abgestumpften Gesellschaft. Der größte Coup ist aber von Trier deshalb gelungen, weil sein Film beim ersten Sehen interpretatorisch gar nicht zu fassen ist - klar scheint nur, dass der Film trotz expliziten und drastischer Szenen viel mehr von den Assoziationen lebt, die er zum Auslösen in der Lage ist. Der Cineast wird wohl erst in einer Retrospektive besser klären können, ob da Kunst, Pornographie, Schrott oder Meisterwerk ist. Für mich ist "Nymphomaniac" nichts von alledem. Aber immerhin ein interessanter Film, der mit etwas Wehmut an die großen Skandalfilme der 70er Jahre erinnert und ein weiterer komplexer Arthausfilm des Regisseurs, von dem ich weiterhin mit großem Abstand seinen 1991 entstandenen "Europa" favorisiere - diese Noirsche Eisenbahnfahrt durch ein dunkles Nachkriegsdeutschland. Dies ist von Triers Meisterwerk für mich und der einzige, der mich von seinen vielen guten Filmen richtig begeisterte.
Bewertung: 7 von 10 Punkten.
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