Regie: Edgar Reitz
Jakobs Traum...
"Die andere Heimat - Chronik einer Sehnsucht" ist als Film eine
regelrechte Offenbarung - vor allem in einer Zeit, in dem das Kino mit
Sensationen und Effekten nur so um sich wirbelt und von einem
Blockbuster zum Anderen Millionen scheffelt. Dabei braucht es nur eine
gute, authentische Geschichte, in dem endlich wieder das Augenmerk auf
interessantere Charaktere gelegt werden. Regisseur Edgar Reitz hat
meines Erachtens mit diesem 230 Minuten langen Epos all das geschafft,
was ich eigentlich in der heutigen Filmlandschaft als unwiederbringlich
verloren glaubte. Ein Film, der scheinbar sperrig sein soll (was er aber
zu keiner Zeit ist) und der sich lange und sorgfältig Zeit lässt seine
Geschichte aufzubauen und der dann irgendwann eine unheimliche
Sogwirkung entwickelt. Ich würde vom besten deutschen Film der letzten
30 Jahre sprechen. Ein Film, der nicht nur von einem großen Filmemacher
getragen wird, sondern auch von einem Weltklasse-Kameramann, dem in
Dresden geborenen Gernold Roll optisch veredelt wird. Bravo, das Wagnis
einen überlangen Monumentalfilm in Schwarz-Weiß zu machen, ist
erstklassig geglückt. Jan Dieter Schneider, ein unverbrauchtes junges
Gesicht, trägt den Film als Hauptfigur mühelos und bringt dem Zuschauer
eine Sehnsucht nah, die man auch heute auch tief im Herzen empfinden
kann - obwohl die Zeiten ganz andere sind und lange nicht so drastisch
wie in dieser Zeit der Jahre 1840 bis 1845 im Hunsrück.
Dort
- in dieser Zeit, die einen ganz anderen Rhythmus hat als unsere
heutige von Hektik und Stress geprägte Welt. Die Menschen mussten hart
arbeiten, konnten aber auch vielleicht viel mehr als heute mal ein paar
Stunden innehalten und die schöne, waldreiche Naturlandschaft geniessen,
die dort existierte. Die Menschen sind einfach, religiös geprägt.
Johann Simon (Rüdiger Kriese) ist der Dorfschmied und hat seine Tochter
Lena (Melanie Fouche) vom Hof verstoßen, weil sie den Katholiken Walter
(Martin Schleimer) geheiratet hat. Gustav (Maximilian Scheidt) kehrt
heim, er war zwei Jahre bei den Soldaten. Sehr zur Freude des Vaters,
denn der zweite Sohn Jakob (Jan Dieter Schneider) liest lieber Bücher
und bildet sich als körperlich anzupacken. Unterstützt wird der
romantische, melancholische Junge aber von seiner Mutter (Marita
Breuer), die ihn immer wieder in Schutz nimmt. Jakobs großer Traum ist
das Auswandern nach Brasilien, er liest Bücher über die Reiseerfahrungen
anderer in die neue Welt, ausserdem lernt er bereits die Sprache der
Indianer Südamerikas. Und die Chancen für eine Auswanderung stehen auch
gar nicht so schlecht, denn schon einige Hunderttausende von Landsleuten
haben die Heimat verlassen. Oft sind es ganze Familienverbände, die
Abschied nehmen und nie wiederkehren. In den Kneipen, während der Kerbe
und auch bei den Familienfesten findet sich kein aktuelleres Thema. Der
Hunsrück, in dem Jakob aufwächst, gehört zu den Regionen Deutschlands,
die am stärksten von der Auswanderungswelle betroffen waren. Angeworben
wurden sie von Kaiser Pedro I, der europäische Kräfte suchte um sein
Land urbar zu machen, vor allem begehrt waren Landwirte oder Handwerker.
Also alles gute Zukunftsaussichten, wenn man sich entschloß die Wurzeln
aufzugeben und in eine ungewisse, aber verheißungsvollere Zukunft
aufzubrechen. Das war Jakobs Traum. Dazu gab es schreckliche
Missernernten und sehr viel soziales Elend, unerträgliche Steuern - zu
dieser Zeit - und Jakob steht da auch für einen dieser Vertreter einer
neuen Richtung - kam aber auch der Gedanke auf, dass jeder einzelne
Mensch Anspruch auf eigenes Lebensglück hat. Dies war ein aufkeimender
Wunsch, aber noch dominierte die Demut und Ergebenheit gegenüber der
Obrigkeit.
Der Alltag ist geprägt von viel Arbeit, von einigen
Schicksalschlägen. Der geliebte Onkel (Reinhard Paulus), der Jakob
immer verstanden hat, fällt eines Tages plötzlich tot um. Auch
Schwärmereien und vielleicht die Jugendliebe hält Einzug ins Leben des
jungen Träumers, denn mit den Mädchen Jettchen (Antonia Bill) und ihre
Freundin Florinchen (Philine Lembeck) hat Jakob plötzlich ein
Geheimnis...
Wahnsinng atmosphärische Bilder zeigen in
endlosen Kolonnen die hochbeladenen Pferdefuhrwerke, wie sie über Berg
und Tal ziehen, um von ihrer Heimat zu den weit entfernten Seehäfen zu
gelangen.
Der Film erzählt von einer nicht greifbaren
Sehnsucht und von Abschied. Aber er ist auch geprägt von diesem
Aufbruchgedanken, der keine Wiederkehr vorsieht. "Die andere Heimat -
Chronik einer Sehnsucht" wurde an Orginalschauplätzen im Hunsrück mit
großem Aufwand an Bauten und historischer Ausstattung gedreht. Dabei
passiert das Beste, was einem Historienfilm passieren kann: Der
Zuschauer ist nach einer gewissen Zeit tatsächlich in dieser völlig
anderen Zeit vor ca. 170 bis 175 Jahren gefühlsmäßig angekommen und
passt sich dort an. Es ist ein Einblick in eine fast verlorene und
vergessene Epoche oder Vergangenheit, wenn da nicht einige Gefühle auch
heute noch existent wären und so der Bezug zum Hier und Jetzt
aufrechterhalten bleibt. Es geht dabei um Leben und Sterben, auch um die
wichtigen Grundbedürfnisse des Menschen, dem Wunsch nach einem besseren
Leben. Jakob liest Bücher und schafft so ein eigenes Universum aus
Wissen und Träumen. Dabei geht das Leben aber oft seltsame Wege und
vielleicht sind Träume deshalb so schön, weil sie noch unerreichbar
sind. Filmisch ist Edgar Reitzs Film stark mit dem großartigen
zweiteiligen schwedischen Filmepos "Utvandrarna/Nybyggarna" (Die
Emmigranten/Das neue Land) von Jan Troell verwandt. Was ihm übrigens
eine Oscarnominierung einbrachte. Daher hab ich mich auch ein bissel
gewundert, warum man mit "Die andere Heimat" nicht den besten deutschen
Film des Jahres ins Oscarrennen schickt. Chance auf die Trophäe
vielleicht mal wieder verpasst...wie schon in 1992 als die deutsche
Oscarkomission "Hitlerjunge Salomon" nicht für erfolgsversprechend und
geeignet hielt.
Bewertung: 10 von 10 Punkten.
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