Regie: Sebastian Schipper
Nachts auf den Straßen von Berlin...
Mit "Victoria" hat Sebastian Schipper nach dem 2001er
Erfolg "Absolute Giganten" seinen zweiten Geniestreich gemacht. In
beiden Filmen spielt auch die Stadt in der sie spielen die Hauptrolle.
So ist es nur wenigen Filmemachern gelungen das Flair der Stadt - also
Hamburg in "Absolute Giganten" und Berlin in "Victoria" - so überzeugend
darzubieten wie Schipper. Trotzdem sind die Filme in der Machart sehr
unterschiedlich. Während "Abolute Giganten" von einer schönen
Melancholie durchzogen wird, ist das Szenario in "Victoria" dynamisch,
hektisch bis pulsierend. Aber der Regisseur legt auch hier Wert auf
stille Momente, die dann umso intensiver wahrgenommen werden. Wenn sich
etwa die Spanierin Victoria (Laia Costa), in dem Cafe in dem sie für 4
Euro Stundenlohn arbeitet, ans Klavier setzt und ihren Zuhörer Sonne
(Frederic Lau) mit ihrem intensiven Spiel und mit einer atmosphärischen
Klaviersonate magisch bezaubert. Ungeduldigen Zuschauern muss man
vielleicht sagen, dass sie auf jeden Fall dranbleiben sollen. Denn der
Anfang ist sehr ungewöhnlich konzipiert. Die Kamera läuft stets mit den
Akteuren mit, die sich am Anfang in einem Berliner Club zum ersten Mal
sehen. Eine junge Spanierin sucht dort vergeblich Kontakt, bis sie auf
der Straße von vier Jungs angequatscht wird. Sonne scheint der Anführer
des Quartetts zu sein, zu dem auch der glatzköpfige Boxer (Frank
Rogowski), der Türke Blinker (Burak Ygit) und das betrunkene
Geburtstagskind Fuß (Max Mauf) gehören. Die Kamera begleitet das
Quartett, das Mädchen schließt sich der komischen Gang an. Es folgen
Bilder vom nächtlichen Berlin, dazwischen reden die Akteure lauter
dummes Zeug. Die Kamera ist in ständiger Bewegung: Rotierend und
delierend. Dies ist für eine deutsche Produktion sehr innovativ und der
Film wurde sehr schnell mit "Lola rennt" verglichen, mich erinnerte die
Machart aber sehr stark an "Irreversibel" oder "Enter the Void", diese
bemerkenswerten Filme von Gaspar Noe mit ihren aussergewöhnlichen
Kameraperspektiven und -fahrten. Die Jungs zeigen ihrer neuen
Bekanntschaft das Berlin der Hinterhöfe, ein Hochhausdach ist der
regelmässige Treffpunkt der Gruppe. Sie albern herum und man verständigt
sich in englisch, da Victoria nicht deutsch spricht. Es ist Berlin, es
hat die zweite Hälfte der Nacht schon längst begonnen. Doch die Stadt
ist noch wach und ab 4 Uhr nimmt die Begegnung zwischen den vier Jungs
und Victoria eine gefährliche Wendung. Plötzlich ist alles anders. Eine
Knastbekanntschaft von Boxer verlangt von diesem einen Gefallen, seine
drei Freunde sollen ihm dabei helfen. Nur blöd, dass es sich dabei um
einen Überfall auf eine Privatbank handelt. Da Fuß inzwischen zu stark
alkoholsiert und nicht mehr mitmachen kann, wird er durch Victoria
ersetzt, die das Auto fahren soll. Das Mädchen willigt naiv ein
mitzumachen, denn sie möchte Sonne damit einen Gefallen
machen...
"Victoria" ist ohne erkennbare Schnitte gedreht, die Kamera lief beim Drehen einfach mit. Dabei wandelt der Film auch auf den Spuren des
Hitchcock Klassikers "Cocktail für eine Leiche". Das Szenario ist
dadurch äusserst dynamisch und ehe man sich versieht ist man in einen
Sog hineingezogen worden, der einfach fesselt. Dabei ist man nicht
einfach als Zuschauer dabei, sondern mittendrin im Geschehen. Man lebt
diese durchzechte Nacht bis zur Katastrophe in den frühen Morgenstunden
einfach hautnah mit. Kameramann Sturla Brandth Grovlen gewann einer der 7
Preise beim deutschen Filmpreis. Der Film gewann auch Gold als bester
Film. Schipper wurde als bester Regisseur ausgezeichnet, ausserdem
konnten die beiden Hauptdarsteller Frederick Lau und Neuentdeckung Laia
Costa triumphieren. Desweiteren wurde die pulsierende Filmmusik (Nils
Frahm) und die Tongestaltung prämiert. Gesprochen wird im Film nur
teilweise Deutsch, die Berliner kommunizieren mit einem meist flüssig
improvisierten Englsich, dass heute schon fast zum offiziellen Dialekt
Berlins geworden ist. Und man bemerkt: Es ist immer was los in dieser
brodelnden Weltstadt, auch noch in den frühen Morgenstunden und vor
allem auch im Mikrokosmos Hinterhof. Das Skurrile ist an der
Tagesordnung. So kann die Gruppe unbemerkt ein paar Bier im Laden, der
nachts offenhat klauen, denn der Besitzer ist an der Kasse
eingeschlafen. Aber auch das Böse lauert. Durch das Auftauchen der
Gangster wird aus "Victoria" ein komplett anderer Film mit
bemerkenswerten Thriller-Qualitäten. Der Film setzte auf Risiko und hat
meiner Meinung nur gewonnen. Diese irre Odyssee durch eine ziemlich
triste Ecke von Neukölln ist ein großartiger Trip - auch eine Studie
über Fremdheit und Verlorenheit, seine Geschichte wirkt roh und echt.
Bewertung: 9 von 10 Punkten.
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